Die Transformation des Denkens
Die Welt des Schachs ist ein idealer Ort, um die Evolution des Denkens anschaulich nachzuzeichnen, da sie stets Spiegelbild des jeweiligen Zeitgeistes ist. Und was sagt der heutige Spielstil über die Denkprozesse der digitalen Ära aus?
Ein gewisser François-André Danican Philidor, französischer Komponist und bester Schachspieler seiner Zeit, brachte Mitte des 18. Jahrhunderts ein Schachtheoriebuch heraus, das das bisherige Denken auf den Kopf stellte. Während Schachspieler davor ausschließlich den mächtigen Figuren vertraut und die Bauern eher als lästigen Ballast empfunden hatten, entwickelte Philidor eine Lehre, in der Bauern eine zentrale Rolle spielen. Von ihm stammt der bis heute gültige Satz: »Der Bauer ist die Seele des Schachspiels«. Zur selben Zeit formulierten Ökonomen den Satz: »Der Bauer ist die Seele der Wirtschaft.«
Schachpartien verraten nicht nur viel über den Charakter der Spieler – ob diese eher ängstlich oder draufgängerisch sind, ob sie eher impulsiv agieren oder mit Kalkül –, sondern sind auch Spiegelbild der Zeit, in der die Spiele stattfinden. Philidors Entdeckung der Bedeutung des Bauern im Spiel lief parallel zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung während der Zeit der Aufklärung ab, in der dem Bauernstand eine zentrale Position im Staatsgefüge eingeräumt wurde.
Es gibt zahlreiche Beispiele, die zeigen, wie eng das königliche Spiel mit dem jeweiligen Zeitgeist verbunden ist. Edmund Bruns hat diese in seiner Dissertation Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in einen wissenschaftlichen Kontext gestellt. Auf den Punkt gebracht: Die Geschichte des Schachspiels ist die Geschichte der kulturellen und kognitiven Transformation.
Die Industrialisierung des Denkens
Der Anfang der Wende vom sogenannten romantischen hin zum modernen Schach vollzog sich im Wettkampf zwischen dem Österreicher und ersten offiziellen Weltmeister der Schachgeschichte, Wilhelm Steinitz, und dem Preußen Adolf Anderssen. Der Kampf fand fast zeitgleich mit der kriegerischen Auseinandersetzung bei Königgrätz zwischen den österreichischen und preußischen Armeen statt. Entgegen dem Schlachtverlauf gewann beim Schachturnier der Österreicher (Steinitz deklarierte seinen Schachsieg wenig überraschend als Rache für die entscheidende Niederlage der österreichischen Armee.) Das eigentlich Interessante daran ist, dass beim Schachwettkampf dieselben Kriterien wie in der Schlacht maßgebend waren. Der eine war besser organisiert und verfügte über die bessere technische Ausbildung nach wissenschaftlichen Grundsätzen (Steinitz). Der andere war Vertreter der zur Neige gehenden Romantik (Anderssen).
Der romantische Schachstil, der parallel zur kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik in England, Frankreich und Deutschland verlief, war geprägt durch wilde Schlachten ohne nüchternes Kalkül oder Abschätzung von Gefahren. Die Maxime lautete furchtloser Angriff auf den gegnerischen König im Stil mittelalterlicher Heere. Das ästhetische Ideal hieß Figurenopfer, das seine künstlerische Entsprechung im Liebestod auf den Theater- und Opernbühnen fand.
Im Kontrast dazu das moderne Schach, das stellvertretend für die Industrialisierung der Welt steht. Steinitz erlernte das Spiel in Wien, der Hochburg des klassischen Schachs. Zunächst war er Meister des romantischen Stils, schon bald aber folgte die Transformation in ein nüchternes, nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ablaufendes Spiel. Seine Grundidee: Es brauchte viele kleine Vorteile, um zu einem entscheidenden Vorteil zu kommen. Damit stand seine Lehre in Verbindung zu der sogenannten Akkumulation des Kapitals, das in der klassischen Nationalökonomie den Ton angab. Sein Credo war ein wissenschaftliches System, das endgültige Lösungen für alle Probleme auf dem Schachbrett liefern sollte.
Die Verwissenschaftlichung
Die Wissenschaft war zu jener Zeit in alle Bereiche des Lebens eingedrungen. Nichts konnte einfach als gegeben hingenommen werden, es musste auf seine Grundlage und Ursachen durchleuchtet werden. Es war die Abkehr vom Anschaulichen, Greifbaren hin zur Abstraktion und Mathematisierung. Es überrascht wenig, dass Steinitz in der Welt des Schachs nicht sonderlich beliebt war, denn er nahm dem Spiel nichts Geringeres als das Herz und machte es damit zu einem banalen Objekt wissenschaftlicher Betrachtung.
Schlimmer wurde es mit seinen Nachfolgern, die aus seiner ohnehin schon sehr trockenen Theorie ein Dogma entwickelten, das eiserne Regeln vorschrieb. Folgte man diesen, würde sich der Sieg von selbst, gleichsam mechanisch bzw. »industriell«, einstellen, so ihre Lehre. In ihren Augen spielte jemand, der sich nicht an ihre Regeln hielt, schlichtweg falsch, auch wenn er gegen sie gewann, was sie als Zufall abtaten.
Das änderte sich erst dann, als in den 1920er-Jahren die »Hypermodernen« oder »jungen Wilden« die Schachbühne betraten. Es war die Zeit des Expressionismus, Surrealismus und Dadaismus, folglich wurde das Spiel zunehmend als Kunst betrachtet, die der wissenschaftlichen Welt der erstarrten Regeln Kreativität und Fantasie zurückgab.
Die Digitalisierung des Denkens
Die Digitalisierung des Schachs bringt Spielern direkte Vorteile: Mit wenigen Mausklicks kann man auf Millionen Partien zugreifen, die in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten dokumentiert wurden. So beherrschen heutige Großmeister die unterschiedlichsten Stile von Romantik bis zum Hypermodernen. Schachcomputer helfen zudem, Eröffnungen oder konkrete Stellungen soweit zu analysieren, dass Partien sich nicht nur um den Sieg drehen, sondern auch theoretische Diskussionen über eine bestimmte Variante darstellen.
Die digitale Transformation des Schachs spiegelt jedoch auch eine Änderung in den Denkprozessen wider, die sich unter anderem in einer für Außenstehende schwer zu fassenden Beschleunigung manifestiert.
Die längste bekannte Partie dauerte 16 Jahre, ein Produkt des Bereichs Fernschach des 19. Jahrhunderts, bei dem man den Zug auf eine Postkarte schrieb, um sie dem Gegner zu schicken. Etwas kürzer war die 10. Fernschach-Olympiade, die von 1987 bis 1995 stattfand. Sie dient als Beweis, dass Schach politische Entwicklungen auch einmal verschläft, denn die Bronzemedaille konnte die Mannschaft der DDR erringen – und das lange nach der Wiedervereinigung.
Klassische Partien, die direkt am Brett ausgetragen werden, schreiben eine Bedenkzeit von rund 100 Minuten für die ersten 40 Züge vor. Danach werden die Intervalle immer kürzer. Trotzdem kann eine einzige Partie viele Stunden dauern. Es werden jedoch auch kürzere Partien gespielt, etwa Blitzpartien, die in der Regel fünf Minuten Bedenkzeit für die gesamte Partie vorschreiben.
Ab hier betritt man das digitale Universum, was einen einfachen Grund hat: Partien von weniger als fünf Minuten sind an einem physischen Brett kaum mehr durchführbar, da die Gefahr des unabsichtlichen Figurenverschiebens oder -umwerfens zu groß ist. Zudem ist es durch die schnelle Zugfolge nicht leicht kontrollierbar, ob alle Züge den Regeln entsprechen.
Beim Online-Schach, bei dem die Züge am Schirm mit der Maus oder am Touchpad mit dem Zeigefinger eingegeben werden, fallen diese Probleme weg: Die Software stellt sicher, dass nur legale Züge gemacht werden. Zudem kümmert sie sich um die exakte Berechnung der Bedenkzeit. Ist diese abgelaufen, wird die Partie automatisch beendet.
Dank dieser technischen Voraussetzungen können online sogenannte Bullet-Schachpartien ausgetragen werden, die in der Regel eine Bedenkzeit von drei Minuten vorschreiben. Aber es geht noch kürzer.
In acht Sekunden vom ersten Zug bis zum Schachmatt
Am 5. Februar 2018 fand auf der Online-Schachspielplattform lichess.org ein Bullet-Turnier mit einer einzigen Minute Bedenkzeit statt, bei dem neben rund 1.400 Schachspielern der regierende Schachweltmeister Magnus Carlsen teilnahm. Auf Youtube lässt sich unter dem Namen Magnus Carlsen (DrDrunkenstein) goes 100% berserk in a Bullet Shield Arena ein Teil dieses denkwürdigen Events nachverfolgen.
Carlsen startete spät ins Turnier. Um überhaupt eine Chance auf den Gewinn zu haben, musste er in den »Hyper-Bullet-Modus« gehen, was mehr Punkte pro Sieg einbrachte. Das bedeutet: 30 Sekunden für alle Züge, während seine Gegner in der Regel die »normale« Bedenkzeit von einer Minute wählten.
Eine Besonderheit beim Bullet-Schach im Gegensatz zu Partien mit klassischer Bedenkzeit ist, dass man auch dann nicht aufgibt, wenn die eigene Stellung rettungslos verloren scheint. Es könnte ja sein, dass die Zeit des überlegenen Gegners früher abläuft, was den automatischen Verlust bedeuten würde. Um zu gewinnen, musste also Carlsen seine Gegner in der Regel schachmatt setzen. Er tat dies auch in 88 Prozent aller seiner 30 Sekunden-Partien.
Carlsens kürzeste Partie vom ersten bis zum entscheidenden Zug dauerte ganze acht Sekunden. Das längste Spiel, das er gewinnen konnte, verlief über rund 90 Züge. Das sind im Durchschnitt also drei Züge pro Sekunde. In zeitkritischen Situationen waren es zehn und mehr. Pro Sekunde, wie gesagt.
Wie ist das möglich? Einerseits erlaubt das die Technik. Man kann einen Zug mit Maus oder Finger eingeben, bevor der Gegner gezogen hat. Tatsächlich ausgeführt wird er aber erst danach, mit einer Verzögerung im Zehntelsekundenbereich. Das bedeutet, dass man nahezu gleichzeitig ziehen kann, was ein unglaublich hohes Maß an Antizipationsfähigkeit voraussetzt.
Andererseits ist es die Art des Denkens, die es möglich macht, während eines einzigen Wimpernschlages eine Stellung zu beurteilen und daraus einen Plan zu schmieden, der den strukturierten Weg zum Schachmatt vorzeichnet. Diese Fähigkeit nennt sich Mustererkennung.
Mustererkennung als Erfolgsrezept
Bereits Anfang der 1970er-Jahre konnte in einer Studie nachgewiesen werden, dass bei Schachprofis spielentscheidende Konstellationen von Figuren im Langzeitgedächtnis gespeichert und dort abgerufen werden können, wenn sich bei einem späteren Spiel die gleiche oder eine ähnliche Stellung ergibt.
Vor kurzem haben Untersuchungen mit der funktionellen Magnetresonanztomographie die Studie bestätigt. Bei professionellen Spielern gibt es zwei Hirnregionen, die beim Spielen aktiviert werden. Die eine, der sogenannte Precuneus, wird bei der Wahrnehmung von Mustern aktiviert, die zweite, der Nucleus caudatus, bei der Entscheidung über den nächsten Spielzug.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Muster dienen Spitzenspielern nicht nur dafür, eine Spielsituation im Bruchteil einer Sekunde zu erfassen, sondern auch als strategisches Ziel. So sind Großmeister dafür bekannt, erfolgsversprechende Konstellationen im Endspiel bereits in einem sehr frühen Stadium der Partie in die Planung miteinbeziehen. Während ein Amateur sich von Zug zu Zug bewegt, sind es bei den Profis Muster, die den strategischen Weg vorgeben.
Das Verblüffende daran ist, dass diese Art des Denkens eine für die digitale Transformation zentrale Technologie widerspiegelt: Big Data Analysis. Im Zentrum steht hier bekanntlich die Fähigkeit, mit einer extrem umfangreichen Datengrundlage, die blitzschnell verarbeitet wird, neue Einsichten zu gewinnen. Diese Einsichten sind nicht das Ergebnis eines exakten, kausalen Prozesses wie in der traditionellen Wissenschaft üblich, sondern bedienen sich bewusst der Ungenauigkeit und Unschärfe – mit anderen Worten: Big-Data-Analysen erzeugen Muster.
Auch in Schach kann man zweifelsfrei von Big Data sprechen. So sind bereits nach zwei Zügen 72.084 verschiedene Stellungen möglich. Bei der Zahl der möglichen Spielverläufe für die ersten 40 Züge belaufen sich die Schätzungen auf etwa 10 hoch 115 bis 10 hoch 120. Im Vergleich dazu die vermutete Anzahl der stabilen Elementarteilchen im bekannten Universum: schlappe 10 hoch 80. Die Muster wiederum dienen Schachprofis, den Weg durch Big Data zu finden. Dabei geht es nicht um die exakte Wiedergabe bekannter Bilder, sondern um Ähnlichkeiten, die das Potenzial einer Stellung erkennen lassen.
Big Data Analysis als Denkmodell?
+Die zahlreichen Analogien, die zwischen dem Denken im Schach und dem Zeitgeist bestehen, legen die Vermutung nahe, dass auch die digitale Transformation einen erheblichen Einfluss auf unsere Denkprozesse ausüben wird. Viktor Mayer-Schönberger bestätigt diese Sicht in seinem Buch Big Data. Die Revolution, die unser Leben verändern wird indirekt: »Vor allem muss die Gesellschaft sich gewohnter Vorstellungen von Kausalität entledigen und stattdessen vermehrt auf Korrelationen verlassen: Man wird oft nicht mehr wissen warum, sondern nur noch was.«
Wie schon die Industrialisierung wird auch die digitale Ära Dogmatiker hervorbringen, die Big Data zu einem Credo machen. Neben den Data Scientist bieten sich dafür die Maschinen selbst an, die dazu verleiten, nach starren Regeln vorzugehen, die auf Basis von automatisierten Analysen entstanden sind. Daher braucht es wie in den 1920er-Jahren die »jungen Wilden«, die dem Dogma Paroli bieten. Aber wahrscheinlich sind diese Wilden bereits unter uns – auch jenseits des Schachs.
Dieser Artikel, verfasst von Wolfgang Franz, erschien ursprünglich in transform! 04/2018, dem Magazin für den digitalen Wandel. © CW Verlag