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Portrait,  Technikgeschichte

Francis Coghlan: The Iron Road Book (1838)

Ein Buch wie The Iron Road Book aus der Anfangszeit des Zugverkehrs verrät viel über die Gedankenwelt der Zeitgenossen – die Art der Wahrnehmung, ihre Ängste und den oft schwarzen Humor.  

Das 1838 erschienene Buch mit dem ausufernden Titel The Iron Road Book and Railway Companion; or a Journey from London to Birmingham Containing an Account of the Towns, Villages, Mansions etc. on Each Side of the Line; Times of Arrival and Departure of the Trains at the Several Stations, Coaches and Omnibusses to the Towns in the Vicinity, with Tables of Distances and Fares form Station to Station, etc. etc. Illustrated with Maps of the entire Line stammt aus der Feder von Francis Coghlan, Autor zahlreicher Reisebücher und Freund von Charles Dickens und anderen Schriftsteller. 

Es gehört zum Genre der Reiselektüre, die mit Einführung der Eisenbahn einen großen Aufschwung erlebte. Das hatte nicht nur mit der steigenden Reisetätigkeit zu tun, sondern mit einem Phänomen, das jeden großen Technikwandel begleitet: Entfremdung. Während die traditionelle Reise in der Kutsche, die meist viele Stunden, oft Tage dauerte, in der Regel zu einer intensiven Kommunikation zwischen den Reisenden führte, blieb man sich im Eisenbahnwagon meist fremd. Man wusste nichts miteinander anzufangen, denn das Gegenüber konnte schon bei der nächsten Station aussteigen und durch einen anderen ersetzt werden.

Einen Ausweg aus der peinlich schweigsamen Situation bot die Lektüre. So entstanden in den Bahnhöfen der 1840er-Jahre Buchläden, in denen man Romane oder Reiseführer nicht nur kaufen, sondern auch mieten konnte. Das geliehene Buch wurde am Zielbahnhof einfach zurückgegeben. Der erste, der eine Konzession für ein Bahnhofsbuchgeschäft erhielt, war übrigens W. H. Smith, dessen Unternehmen in Großbritannien heute noch ein Begriff ist. 

The Iron Road Book.
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Hoher Grad an Detailtreue

Dass The Iron Road Book vor allem an Personen gerichtet war, die noch wenig Erfahrung mit Eisenbahnfahrten hatten, zeigen die detaillierten Beschreibungen. Beispiel Streckenpersonal (»Constables«): 

Die Steckenwärter werden im Abstand von einer  bis eineinhalb Meilen entlang der gesamten Linie platziert. Jeder Mann ist tagsüber mit zwei Flaggen, einer roten und weißen, und nachts mit einer Lampe ausgestattet, die entweder weißes, grünes oder rotes Licht zeigt. Das weiße Licht zeigt dem Ingenieur des herannahenden Zuges, dass es keine Behinderung gibt. Die grüne Farbe weist ihn an, die Geschwindigkeit des Zuges zu verringern, Rot bedeutet, dass der Zug so schnell wie möglich zu stoppen ist.  […]  Die Streckenwärter beginnen ihren Dienst eine halbe Stunde vor dem ersten Zug am Morgen bis nach dem letzten Zug in der Nacht.  […] Sie erhalten das gleiche Gehalt wie die Stadtpolizei und tragen eine Uniform, die dieser ähnlich sieht. 

Francis Coghlan: The Iron Road Book, Seite 13

Den größten Teil des Reiseführers nimmt die Beschreibung der Strecke von London nach Birmingham ein, die 1838, also dem Jahr der Bucherscheinung, fertiggestellt wurde. Sie gilt als eine der ersten Fernverkehrsstrecken der Welt und die erste, die ins Zentrum der britischen Hauptstadt führte. 

Das Besondere an The Iron Road Book ist, dass die Streckenbeschreibung tabellarisch angelegt ist. In der mittleren Spalte sind die Meilen angegeben, die beiden äußeren Spalten verzeichnen jeweils die Sehenswürdigkeiten – je nachdem, ob man links oder rechts aus dem Zug blickt. 

Neben Stadtbeschreibungen inklusive der Beurteilung von Unterkünften wie Hotels und praktischen Tipps (»3,5 Meilen: Halten Sie Ihren Hut fest!«) finden sich selbst Details zu einzelnen Gebäuden, die irgendwo im Nirgendwo stehen: 

Am Fuße des Hügels befindet sich das Boxmoor House. Einige Leute aus London haben versucht, dieses Haus zu erwerben, um es in ein Irrenhaus zu verwandeln.

Francis Coghlan: The Iron Road Book, Seite 40
Tabellarische Aufzählung der Sehenswürdigkeiten, die man vom Zug aus nicht erkennen konnte.
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Rache an der Industrialisierung

Der Autor weist darauf hin, dass er all diese Details nicht von der Eisenbahn aus erwerben konnte, sondern die gesamte Strecke – rund 190km – »unter großer persönlicher Ermüdung« durchwandern musste. Bemerkenswert ist auch die Zusatznotiz: »Eine große Anzahl der beschriebenen Orte kann nicht von der Eisenbahnstrecke aus gesehen werden.«

Dieser letzte Satz wirkt wie eine persönliche Rache des Autors an der schönen, neuen Welt der Industrialisierung, denn letztere sorgte dafür, dass die Fahrt mit der Eisenbahn als »Vernichtung von Raum und Zeit« empfunden wurde. Wolfgang Schivelbusch hat in seinem bahnbrechenden Werk Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert anhand von zeitgenössischer Literatur nachgezeichnet, wie sich die Wahrnehmung im Laufe der Industrialisierung verändert hat.  

Die Geschwindigkeit und mathematische Geradlinigkeit, mit der [die Eisenbahn] durch die Landschaft schießt, zerstören das innige Verhältnis zwischen Reisendem und durchreisten Raum. […] So wie die Eisenbahn als Projektil wird die Reise in ihr als Geschossenwerden durch die Landschaft erlebt, bei dem Sehen und Hören vergeht.

Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, Seiten 52-53

Die Folge war, dass unerfahrene Reisende außerhalb des Zuges kaum etwas erkennen konnten, da das Auge nicht trainiert war. Damit erhält die Aussage des Autors, Objekte zu beschreiben, die man nicht erkennen konnte, eine Doppeldeutigkeit: Selbst jene Objekte, die sich im Gesichtsfeld befanden, lagen außerhalb der Wahrnehmungsgrenze. Coghlan führt den Leser damit vor Augen, dass die Industrialisierung mit dem Verlust von intensiver Erfahrung verbunden ist, die man während der Reise in der vorindustriellen Zeit empfunden hatte. 

Bereits im Jahr 1838 wusste man, wie sich Buchprojekte am besten finanzieren ließen: Anzeigen von Unterkünften an der Strecke.
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Je weiter hinten, desto besser der Sitzplatz

Was der Autor über das erste Massenverkehrsmittel auf dem Landweg generell dachte, zeigt sich vor allem bei seinem Ratschlag für die Wahl des optimalen Sitzplatzes – ein subtiles Beispiel für den schwarzen englischen Humor.    

Wenn Sie mit den »Kutschen« der zweiten Klasse, oder eher »Waggons«, unterwegs sind, sollten Sie folgende Ratschläge beachten. In erster Linie sollten Sie so weit wie möglich von der Lokomotive entfernt sitzen, und das aus drei Gründen. 

Erstens: Wenn es zu einer Explosion kommt, können Sie mit etwas Glück mit dem Verlust eines Armes oder eines Beines davonkommen. In der Nähe der Lokomotive würden Sie vollständig in Stücke gerissen werden.

Zweitens: Je weiter Sie vom Dampfkessel entfernt sind, desto geringer sind die Vibrationen. 

Drittens: Setzen Sie sich, wenn möglich, mit dem Rücken zur Fahrrichtung. Damit reduzieren Sie die Auswirkungen des kühlen Fahrtwindes und werden nicht von den kleinen glühenden Schlacken geblendet, die aus dem Rauchfang kommen.

Francis Coghlan: The Iron Road Book, Seite 18

Die Angst vor Unfällen war nicht unbegründet, sie gehörten zu den größten Katastrophen des 19. Jahrhunderts. So etwa verloren am 8. Mai 1842 auf der Strecke Paris-Versailles 55 Personen ihr Leben, über 100 wurden schwer verletzt – ein »europäisches Eisenbahntrauma«, das noch lange nachwirkte. Zudem kam es vor allem in der Anfangszeit immer wieder zu Kesselexplosionen, wie von Francis Coghlan beschrieben. 

The Iron Road Book ist ein schönes Beispiel dafür, wie eine neue Technologie nicht nur wirtschaftliche und soziale Auswirkungen hat. Selbst die Wahrnehmung gerät durcheinander und kann damit zu großer Verunsicherung führen. Eine gute Möglichkeit, darauf zu reagieren, ist Humor. Die andere: Geduld solange, bis sich die Menschheit daran gewöhnt hat.  

Wolfgang Franz

Gründer und Geschäftsführer von GILGAMESH Storytelling.