© The Trustees of the British Museum
© The Trustees of the British Museum
Storytelling

Gilgameschs bemerkenswerte Wiederentdeckung

Ein britischer Banknotengraveur entdeckte mit dem Gilgamesch-Epos eines der ältesten Zeugnisse schriftlichen Storytellings. Ein Teil des Epos: Die Geschichte der Sintflut, die wesentlich älter ist als jene des Alten Testaments.

Am 3. Dezember 1872 – ein kalter, verschneiter Tag in der Conduit Street Nummer 9 (heute findet sich dort das beeindruckend-skurrile Sketch-Restaurant) präsentierte der 32-jährige Mr. Smith die Ergebnisse seiner Forschungen und löste damit eine Sensation aus.  

Mr. Smith hat in einem Konvolut aus hunderttausenden Bruchstücken von Keilschrifttafeln, die ein Vierteljahrhundert davor in der ehemaligen mesopotamischen Stadt Ninive im heutigen Irak gefunden und in das Britische Museum gebracht worden waren, eine Erzählung entziffern können, die jeder im Publikum bestens kannte. Es war die Geschichte der Sintflut

Das war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. 

Die bis zu jenem Zeitpunkt entzifferten Tafeln des Britischen Museums betrafen alle Themen, die nur wenige Spezialisten interessierten: Vertragstexte, Gebete, Bittgesuche an den König und ähnliches mehr. Mr. Smith hat hingegen nicht nur eine Geschichte von weltweitem Format entdeckt, sondern auch herausgefunden, dass diese in eine größere Erzählung eingebettet war, die später als Gilgemesch-Epos in die Geschichte einging. 

Da die Keilschrift-Tafeln auf die zweite Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. datiert werden, ist die Sintflut-Erzählung des Gilgamesch-Epos wesentlich älter als die des Alten Testaments. Diese Entdeckung war gerade für das 19. Jahrhundert, in dem begonnen wurde, die Bibel mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden auf ihren historischen Wahrheitsgehalt hin zu untersuchen, ein wesentlicher Beitrag. Für die einen war die Sintflut-Erzählung des Gilgamesch-Epos eine Bestätigung dafür, dass »die Bibel doch recht hatte«. Für die anderen bedeutete sie, dass die Bibelautoren bereits lang bekannte Geschichten übernommen hatten, um damit ihren religiösen Anspruch zu legitimieren und greifbar zu machen. 

Mr. Smith hat mit dem Gilgamesch-Epos zudem eine der ältesten überlieferten literarischen Dichtungen der Menschheit entdeckt und damit den Urahnen von Storytelling.   

Last but not least ist die Biographie des Entdeckers bemerkenswert. Mr. Smith, der durch seine Präsentation am 3. Dezember 1872 gleichsam über Nacht Weltruhm erlangte, war das Kind einer Londoner Arbeiterfamilie und hatte sich seine außergewöhnlichen Fähigkeiten, etwa im Entziffern der Keilschrift, selbst beigebracht. Für das viktorianische Zeitalter mit seiner streng hierarchischen Gesellschaftsordnung und den geschlossenen akademischen Zirkeln eine Besonderheit.  

Das Britische Museum.
© Ham

Der Banknotengraveur

George Smith schloss seine Schulbildung mit 14 ab und erlernte den Beruf des Graveurs. Sein Interesse für Bibelstudien führte ihn in das Britische Museum, das drei Tage in der Woche für private Forschung offen stand. Bei seinen regelmäßigen Besuchen während seiner Mittagspause lernte er die mehr als hunderttausend Keilschrift-Fragmente des Museums kennen und konnte sie nach mehreren Jahren des intensiven Selbststudiums fließend lesen. Damit übertraf er die Fähigkeiten der angestellten Spezialisten, die ihm eine Assistenzstelle anboten. 

Im Gegensatz zu den rund 50 Jahre davor entzifferten ägyptischen Hieroglyphen, die dank der bildlichen Darstellung Rückschlüsse auf die Bedeutung zuließen, stellte die Keilschrift die wissenschaftliche Welt vor enorme Probleme. Man wusste zunächst nicht einmal, ob es sich bei den abstrakten Zeichen um Buchstaben, Silben oder Wörter handelte. Zudem war es schwierig, herauszufinden, welche Bruchstücke zusammengehörten. Aus Angst vor Feuer erlaubte das Britische Museum außerdem keine künstlichen Lichtquellen. Daher war George Smith auf das Tageslicht angewiesen, das durch den berühmt-berüchtigten Londoner Nebel oft eingeschränkt war. 

Mr. Smith konnte alle Widerstände überwinden und stieg nach Jahren des Selbststudiums zum führenden Assyriologen der Welt auf. Höhepunkt seiner kurzen Karriere war die Entdeckung des Gilgamesch-Epos, das aus elf nummerierten Steintafeln besteht. 

Allerdings waren die Tafeln – hier vor allem die Sintflut-Geschichte – unvollständig. Daher bemühte er sich um eine Reise zum Ausgrabungsort, die jedoch nicht vom Museum finanziert wurde (trotz seiner Erfolge hielt man ihn als Archäologe nicht für ausreichend kompetent), sondern von der Tageszeitung Daily Telegraph.     

Obwohl Smith eher ein Stubengelehrter als ein »Jäger des verlorenen Schatzes« war, konnte er alle Herausforderungen, die mit der Expedition in das Gebiet des ehemaligen Mesopotamien verbunden waren, meistern und bereits in der ersten Ausgrabungswoche die fehlenden Bruchstücke zu Tage fördern. 

Dank Telegrafen war die Öffentlichkeit in Europa und den USA hautnah am Geschehen. George Smith berichtete quasi in Echtzeit über seine Ausgrabungserfolge. Damit fand eine bemerkenswerte Symbiose zwischen dem ältesten (Keilschrifttafeln) und damals modernsten schriftlichen Kommunikationsmittel (Telegraf) statt. 

Weiterführende Literatur

Ernst Doblhofer: Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen (1993 [1957]).

David Damrosch: The buried book. The loss and rediscovery of the great Epic of Gilgamesh (2007).

Wolfgang Franz

Gründer und Geschäftsführer von GILGAMESH Storytelling.