Was bringt Storytelling der IKT-Branche?
Storytelling ist ein Thema, das in den letzten Jahren auch in einem sehr technikorientierten Bereich wie der IKT-Branche an Bedeutung gewonnen hat. Doch wie kann »Geschichten Erzählen« hier aussehen? Und welche Vorteile bringt es?
Fragt man drei Personen, was sie unter Storytelling verstehen, bekommt man vier Antworten. Das mag unter anderem daran liegen, dass das Thema sehr weitläufig ist und damit höchst unterschiedliche Herangehensweisen erlaubt. Neu ist es jedenfalls nicht, da es zu den ältesten Kommunikationsformen der Menschheit zählt. Der erste schriftliche Nachweis von Storytelling ist das Gilgamesch-Epos, das aus altbabylonischer Zeit (1800 bis 1595 v. Chr.) stammt.
Relativ neu ist Storytelling jedoch in technikorientierten Bereichen wie der IKT-Branche, die auf den ersten Blick gesehen rein gar nichts mit der Welt der Mythen, Märchen und Legenden zu tun hat. Einer, der die Methoden des Storytelling früh genutzt und meisterlich beherrscht hat, war Steve Jobs. So ist etwa seine berühmte Rede vor Stanford-Absolventen im Jahr 2005 ein Musterbeispiel für die Struktur einer sogenannten Heldenreise, die als wichtigstes Grundmuster für Storytelling gilt.
Worin unterscheidet sich Storytelling von anderen Kommunikationsformen?
Vereinfacht gesagt: Storytelling spricht im Gegensatz zu reiner Faktenübermittlung nicht nur das Gehirn an, sondern gleichsam auch das Herz. Eine gute Geschichte löst eine Kettenreaktion an Gefühlen aus, die im Zusammenhang mit den Hormonen Oxytocin, Cortisol und Dopamin stehen. Ersteres sorgt im weitesten Sinn für die Identifikation mit anderen Menschen oder auch Tieren (je nachdem, wer der Held der Geschichte ist), Cortisol für die Spannung und Dopamin bekanntlich für Glücksgefühle. Diese Wirkung lässt sich sogar mit einzelnen Sätzen erzielen, die nach den Prinzipien des Storytelling geformt sind.
Vergleichen Sie dazu folgende Aussagen: »Unsere Mission ist es, durch teamzentrierte Innovation und strategisch gezielte Initiativen in der Raumfahrtindustrie international führend zu werden.« Der zweite Satz, der ähnliches aussagt, aber eine ganz andere Wirkung erzielt, lautet: »Die Vereinigten Staaten sollten sich das Ziel setzen, noch vor Ende dieses Jahrzehnts einen Menschen auf den Mond landen zu lassen und ihn wieder sicher zur Erde zurückzubringen.« Während erster Satz als typischer PR-Sprech den Zuhörer buchstäblich kalt lässt, trifft der zweite direkt ins Herz der Zielgruppe. Die US-Bevölkerung, die John F. Kennedy im Jahr 1962 mit diesem Satz angesprochen hat, war eine Nation, die durch die Erfahrung zahlreicher Kriege genau wusste, was es bedeutete, »ihre« Söhne auf eine gefährliche Mission zu schicken. Die in Aussicht gestellte sichere Heimkehr ist daher das emotionale Kernelement des Satzes. Zudem hat Präsident Kennedy mit dem Setzen einer Deadline (»noch vor Ende des Jahrzehnts«) ein zusätzliches Spannungselement integriert, das die Zeitgenossen des Kalten Krieges und des damit zusammenhängenden Wettrennens mit der Sowjetunion nicht ungerührt lassen konnte.
Hier zeigt sich ein weiterer Unterschied zu anderen Kommunikationsformen: In der PR-Sprache scheint die Welt wie der sprichwörtliche Ponyhof mit makellosen Helden und einem problemfreien Leben. Storytelling negiert nicht wie PR die Probleme und Konflikte – im Gegenteil: Im Storytelling sucht man bewusst danach, da jede gute Geschichte in der Regel aus einer Menge an Herausforderungen und deren Lösung besteht. Alles andere ist keine Geschichte, sondern eben klassisches PR. Ein typisches Negativbeispiel sind die in der IKT-Welt weit verbreiteten Success Storys, die zwar den Erfolg feiern, aber darauf vergessen, dass es ohne Krisen keine Geschichten gibt.
In welchen Business-Bereichen lässt sich Storytelling einsetzen?
Das Konzept des Storytelling für den Einsatz im Unternehmen stammt aus den USA. Am MIT hat sich in den 1990er-Jahren ein Team aus Wissenschaftlern, Journalisten und Managern von Großunternehmen zusammengesetzt, um eine bis dato nur schlecht gelöste Aufgabe positiv zu erledigen. Die Grundfrage lautete: Wie gelingt es, Lernprozesse im Unternehmen so zu dokumentieren, dass alle Mitarbeiter, auch jene, die nicht direkt in den Prozessen aktiv waren, davon profitieren können. Ihre Antwort: Es geht am besten mit Geschichten.
Das liegt unter anderem daran, dass das menschliche Gehirn Geschichten liebt, weil es Inhalte nicht nur bewusst verarbeitet kann, sondern zu einem großen Teil auch unbewusst. Damit erreicht der Körper dreierlei: Während intensives Denken Studien zufolge bis zu 20 Prozent der Körperenergie verbraucht, nutzt die unbewusste Verarbeitung von Informationen nur fünf Prozent. Zweitens: Reaktionen laufen wesentlich schneller ab, wenn sie nicht bewusst geprüft werden müssen. Drittens: Unbewusstes ruft leicht und rasch bewertete Erfahrungen ab.
Mit anderen Worten: Geschichten sorgen dafür, dass Menschen Informationen wesentlich effizienter verarbeiten als abstrakte Inhalte. Auch bei der Nachhaltigkeit haben Geschichten die Nase vorn.Denn welche Informationen in den Langzeitspeicher gelangen und wie wir diese Erinnerungen abrufen, hängt stark davon ab, welchen emotionalen Wert ihnen das limbische System beimisst. Ist der Inhalt langweilig und bedeutungslos, bleibt er meist nur im Kurzzeitgedächtnis und ist damit früher oder später verloren.
Storytelling kann nicht nur für Lernprozesse im Unternehmen genutzt werden. Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die interne und externe Kommunikation. Geschichten machen auf das Unternehmen aufmerksam, sie informieren über die Firma, lösen zudem bedeutende Gefühle in den internen und externen Bezugsgruppen aus und sorgen schließlich dafür, dass die Bezugsgruppen das Unternehmen besser speichern und aus ihrem Gedächtnis leichter und schneller abrufen können.
Warum eignet sich die digitale Transformation gut für Storytelling?
Das kann jeder beantworten, der schon einmal an einem entsprechenden Projekt beteiligt war. Der digitale Wandel ist eine unerschöpfliche Quelle für Probleme jeder Art. Das betrifft bekanntlich nicht nur Herausforderungen auf technischer sondern auch auf organisatorischer Ebene – bis hin zu persönlichen Befindlichkeiten.
Es liegt also auf der Hand, diese Probleme aus der Storytelling-Perspektive anzusprechen. Denn erst die Überwindung der Herausforderungen machen aus einem normalen Protagonisten einen Helden. Und falls sich ein Projekt als vollkommender Fehlschlag ohne Happy End herausstellt, dann dient es zumindest als Lehre, die wertvoller sein kann als ein Projekt, dessen glücklichen Ausgang man sich nur schwer erklären kann.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der den digitalen Wandel für Storytelling prädestiniert: Die Krisen, die in einer Geschichte auftreten, sind dazu da, dass der Held dazulernt, was nichts anderes bedeutet, als eine Transformation in Gang zu setzen. Daher bietet ein Transformationsprojekt per se ein ideales Ausgangsmaterial für gute Geschichten. Dazu gehört beispielsweise die anfängliche, vollkommen menschliche Weigerung des Helden, die Herausforderungen eines Abenteuers anzunehmen. Vor diesem Hintergrund sind mögliche Vorbehalte der Mitarbeiter gegenüber einer neuen digitalen Lösung nicht ein Manko, für das man einen Schuldigen suchen müsste, sondern Teil des Konzepts.
Wer ist der Held der Geschichte?
Die digitale Transformation ist, wie gesagt, ein Reservoir, das zahllose Ideen für gute Geschichten liefert. Doch wer soll der »Held« sein? Natürlich bietet sich zu allererst das Unternehmen selbst an, das auf dem Weg in das digitale Zeitalter ist. Doch wer will sich schon mit einer Firma als rechtliches Konstrukt identifizieren? Wesentlich besser und emotionaler ist es, Personen zu wählen, die den digitalen Wandel repräsentieren. Dazu gibt es eine interessante Studie, die klärt, welche Art von Person bzw. Funktion am besten ankommt. Thema der Umfrage war zwar Brand Storytelling, die Ergebnisse lassen sich jedoch auch auf andere Bereiche des Storytelling anwenden.
Ganz oben in der Gunst des Publikums stehen Geschichten, die von Kunden erzählt werden. Danach folgen Mitarbeiter, dann Prominente und weit abgeschlagen CEOs bzw. Unternehmensgründer, wenn sie nicht gerade begnadete Erzähler wie Steve Jobs sind. Auf den Punkt gebracht: Je »menschlicher« die Personen wirken, desto höher ist das Identifikationspotenzial.
Wenn ein möglichst authentischer und natürlicher Blick auf das Unternehmen gewünscht ist, bieten sich also Mitarbeiter an – und hier vor allem jene, die den größten Widerstand gegenüber eine Änderung im Zuge der digitalen Transformation an den Tag legen und schließlich von den Vorteilen überzeugt werden können.
Wie ist eine Heldenreise aufgebaut?
Die Heldenreise, die im Business-Umfeld verwendet wird, besteht in der Regel aus zwölf Stationen. Die gewohnte Welt, als Beispiel, beschreibt die Ausgangsposition und führt den Helden mit all seinen Stärken und Schwächen ein. Beim Thema digitale Tranformation könnten das z.B. Mitarbeiter in traditionellen Arbeitsprozessen sein. Der Ruf des Abenteuers bringt die Story in Gang: Generell kann dieser Ruf aus einer Kriegserklärung, einer Entdeckung, einem Auftrag oder eben aus der Präsentation einer neuen digitalen Lösung sein. Wie bereits erwähnt ist die anfängliche Weigerung des Helden ein essenzieller Teil der Geschichte. Sie dient in erster Linie dazu, den Helden möglichst menschlich darzustellen: Je gefährlicher das Abenteuer, desto verständlicher wirkt die Weigerung.
Mit der Überschreitung der ersten Schwelle beginnt die eigentliche Reise, die aus einer in der Intensität zunehmenden Abfolge von Aufgaben und Prüfungen besteht. Der erste Höhepunkt der Geschichte ist die entscheidende Prüfung. Ist diese geschafft, tritt der Held für gewöhnlich den Heimweg an, der ebenfalls mit Hindernissen gepflastert ist. Geht die Geschichte gut aus, ist der Held wieder am Ausgangspunkt, jedoch ist er klüger oder teamorientierter als am Anfang der Reise. Zudem hat er etwas mitgebracht, das man in der Fachsprache Elixier nennt: Das kann ein Schatz sein, ein Ehepartner oder die Erkenntnis, dass Lösungen der digitalen Transformation tatsächlich helfen, den Arbeitsalltag besser zu bewältigen.
Das Konzept der Heldenreise bietet nur einen Anhaltspunkt dafür, wie gute Geschichten aufgebaut sind. Es können einzelne Stationen ausgelassen oder die Reihenfolge geändert werden.
Dieser Artikel, verfasst von Wolfgang Franz, erschien ursprünglich in transform! 05/2018, dem Magazin für den digitalen Wandel. © CW Verlag